Dass in Sachsen
Sorben leben, ist kein
großes Geheimnis. Dass einer von ihnen die letzten Jahre Ministerpräsident des Freistaates war, ebenfalls nicht. Die aktuelle Debatte um die – auf vielen Ebenen unhaltbare – Aussage eines
sächsischen Dorfbürgermeisters, Michael Kretschmer sei „der erste
sächsische Ministerpräsident“ (nach zweien „aus den westlichen
Bundesländern […] und einem Sorben“; sh.
hier, ab 40:13) zeigt allerdings wieder einmal bedenkliche
Bewusstseinslücken, was die Rolle der Sorben in Sachsen anbelangt –
und zwar sowohl bei jenen, die diesem Unsinn nicht widersprechen und
nicht widersprochen haben, als auch bei manchen, die Kretschmer und
den MDR nun für ihre fehlende Intervention an jener Stelle
kritisieren.
Stanislaw Tillich, kein Sachse also. Wie
denn auch, mit einem solchen Namen?¹
Gerade ihm, dem doch seine Partei als erstem in Sachsen geborenen²
Ministerpräsidenten nach der Wende sogar den markigen Plakatspruch
„Der Sachse“ verliehen hatte und der immerhin neun Jahre dem
Freistaat vorstand, wird in einer Sendung des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks – unwidersprochen – ganz nebenbei die sächsische
Bürgerschaft entzogen. Ausgestoßen. Ein Fremder, keiner „von
uns“. Diese Ausgrenzung stieß – leicht verspätet – auf
medialen Rückhall, in den deutschen Medien erst einige Wochen nach
besagter Sendung und nachdem der ehemalige Domowina-Vorsitzende Jan
Nuk sie in Serbske Nowiny thematisiert
und der Arzberger Bürgermeister sich in
eben jener Zeitung entschuldigt hatte, er habe es „nicht so
gemeint“.
Unmöglich
ist die Bemerkung nicht nur, weil sie einen Teil der angestammten
Bevölkerung des Freistaates – und zufällig jenen mit
nicht-deutscher Muttersprache – einfach mal so „ausbürgert“,
womit insbesondere Deutsche vor dem Hintergrund ihrer Geschichte sehr
vorsichtig sein sollten. Unmöglich ist sie auch, weil „Sachse“
und „Sorbe“ schlicht keine Gegensätze sein können. Es handelt
sich um grundverschiedene Kategorien, wobei eine die territoriale
Herkunft, die andere die ethnische Zugehörigkeit beschreibt. Sachse
ist, wer auf dem Gebiet des Freistaates Sachsen ansässig ist. Ob er
zuhause Deutsch, „Sächsisch“³
oder eben Sorbisch spricht, ist dafür völlig egal.⁴
Wer ist Sachse?
Laut Sächsischer Verfassung, Artikel 5,
gehören „dem Volk des Freistaates Sachsen […] Bürger deutscher,
sorbischer und anderer Volkszugehörigkeit an.“ Die Verfassung
meint hier Deutsche und Sorben im ethnischen Sinne, denn „Deutsche
im Sinne des Grundgesetzes“, also deutsche Staatsbürger, sind
Sorben selbstverständlich auch. Und sie schreibt bewusst „Deutsche
und Sorben“, nicht etwa
Sachsen. Das tut sie
aus einem ganz einfachen Grund: Eine Ethnie der „Sachsen“ gibt es
nicht (mehr) – und gab es auf dem Territorium des heutigen
Freistaats auch nie, ebensowenig wie eine „Sächsische Sprache“.
Der germanische Stammesbund der Sachsen lebte historisch zwischen der
heutigen niederländischen Grenze im Westen und der unteren Elbe im
Osten (also im heutigen Niedersachsen),
wo seine Nachbarn slawische Stämme waren, die eine dem Sorbischen
eng verwandte Sprache verwendeten. Die heutigen „Sachsen“ dagegen
stammen nicht von jenem Volk ab, sondern zum Teil von fränkischen
und thüringischen Kolonisten, die ab dem 12. Jahrhundert in die
sorbisch besiedelten Gebiete zwischen Saale und Neiße einwanderten,
zum Teil von späteren Einwanderern (u.a. hunderttausenden Umsiedlern
aus Schlesien) und – zum großen Teil, wie man u.a. an ihren
Familiennamen erkennen kann – eben von der sorbischen
Vorbevölkerung. Da sich
diese Linien über die Jahrhunderte selbstverständlich vermischten,
trifft auf die meisten Sachsen wohl alles davon zu. Nicht
auszuschließen ist, dass einige Sachsen sogar tatsächlich ethnisch
sächsische Vorfahren haben – die Regel dürfte es nicht sein.
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Sorben – irgendwie anders (Buchempfehlung: Elka Tschernokoschewa, Das Reine und das Vermischte. Die deutschsprachige Presse über Andere und Anderssein am Beispiel der Sorben. Waxmann, 2000.) |
Sorben – Fremd und anders?
Verschiedentlich
wurde der Nebensatz des
Arzberger Bürgermeisters (in
dessen Gemeinde Orte so wunderbare Namen tragen wie Kaucklitz,
Köllitsch und Triestewitz) in
den letzten Tagen auch in deutschen Medien aufgegriffen und
thematisiert. Die Ausgrenzung Tillichs, sein Herauswurf aus dem
(nicht existenten)
„sächsischen Volk“, wurde dabei auch in Zusammenhang gebracht
mit dem in Sachsen stärker als anderswo verbreiteten „Fremdenhass“,
der sich nun schon gegen die „eigene Minderheit“ richte, also
gegen alles „Andere“ im Freistaat. Das Problem an dieser Stelle
ist nur Folgendes: Wir Sorben sind in Sachsen weder „fremd“, noch
„anders“. Wir sind Einheimische, deren Vorfahren dieses
Land vor mehr als 1300 Jahren besiedelt haben.
Stanislaw
Tillich – dem mancher es wohl übel nahm, dass er seine sorbische
Muttersprache nicht verleugnete – sagte einmal, man könne darüber
debattieren, wer „zuerst hier war“ – Sorben oder Deutsche.
Nein, kann man nicht. Vor der Einwanderung besagter Kolonisten ab dem
12. Jahrhundert sprachen die Einwohner des heutigen Sachsens –
Milzener, Daleminzier, Besunzane und ihre verwandten Stämme, die an
Neiße, Spree, Elbe und Mulde lebten – kein „Deutsch“ (und erst
recht kein „Sächsisch“), sondern verschiedene slawische
Mundarten der sorbischen Gruppe. Und natürlich nannten sie sich auch
nicht „Sachsen“, sondern höchstwahrscheinlich „Sarby“,
„Serby“ oder „Sorby“. Als
slawischsprachige Sorben erhalten geblieben sind einzig einige
Nachfahren der Milzener in der Ober- und der Lusitzer in der
Niederlausitz. Was aber geschah mit dem Rest? Wo sind die Nachfahren
der Daleminzier und Besunzane?
Wer war eher da?
Nahezu das gesamte Territorium des
heutigen Freistaats – abgesehen von den gebirgigen Regionen am
Südrand – hat (auch) eine sorbische Geschichte. Nur ist sie in den
meisten Gegenden eben schon etwas länger her als in der Lausitz, wo
es noch vor 130 Jahren Orte gab, in denen die wenigsten Bewohner
Deutsch beherrschten. Dass Orte in Sachsen aus dem Sorbischen
stammende Namen wie Dresden („Auenbewohner“), Leipzig
(„Lindenort“), Chemnitz („Steinbach“) oder Oelsnitz
(„Erlenbach“) tragen, ist schließlich kein Zufall. Es liegt
schlicht daran, dass die meisten sächsischen Städte sich aus
sorbischen Dörfern entwickelten. Aus dem selben Grund sind
slawischstämmige Familiennamen wie Noack, Pietsch oder eben auch
Kretschmer in ganz Sachsen verbreitet.
Nun sind die Sorben von Leipzig, Dresden
und Chemnitz nicht einfach verschwunden, sie wurden nicht vertrieben
und auch nicht ethnisch gesäubert und durch Deutsche ersetzt. Nein,
sie haben schlicht im Laufe der letzten acht Jahrhunderte ihre
sorbische Sprache abgelegt und wurden zu Deutschen. Ja, ethnische
Zugehörigkeit und Muttersprache lassen sich wechseln – zugegeben
ebenfalls eine Binsenweisheit, die heutzutage nicht sonderlich
populär ist. Aus Sorben können Deutsche werden – und umgekehrt,
wofür es in der Lausitz einige Beispiele gibt. Wie dieser Prozess
abläuft, lässt sich bei uns rund um Bautzen bis heute beobachten.
Noch nach dem Zweiten Weltkrieg war die Bevölkerungsmehrheit in
Orten wie Malschwitz oder Guttau sorbischsprachig und es gab eine
Reihe sorbischer Vereine, die in diesen Orten wirkten. Heute leben
dort nur noch ein paar einzelne Sorben, aber das heißt nicht, dass
die anderen verschwunden wären. Nein, sie sind schlicht die
Vorfahren der heutigen Bewohner, freilich mit der Ausnahme jener
Familien, die nach 1945 aus Schlesien zuwanderten oder noch später
aus anderen Gegenden hinzukamen.
Das zeigt gleichermaßen, dass die
Debatte darüber, wer „eher da war“, einigermaßen sinnlos ist.
Wir können anhand der Siedlungsgeschichte zweifelsfrei feststellen,
dass zuerst Sorbisch und erst später Deutsch gesprochen wurde. In
einigen Lausitzer Dörfern hielt das Deutsche erst gegen Ende des 19.
Jahrhunderts Einzug.
Die Frage, wer „Erster“ war, ist
jedoch auch generell irreführend, eben weil die Mehrheit der
heutigen „Sachsen“ über kurz oder lang zumindest zum Teil von
der sorbischsprachigen Vorbevölkerung abstammt, auch wenn das den
meisten nicht bewusst sein mag – übrigens auch vielen Sorben
nicht. An diesem Punkt führt selbst die sächsische Verfassung in
die Irre, die die Existenz zweier voneinander getrennter Staatsvölker
in Sachsen nahelegt. Tatsächlich ist natürlich sowohl der Wechsel
von der einen in die andere Gruppe als auch eine doppelte
Identifizierung ohne Weiteres möglich. Um die Perspektive zu
wechseln, könnte man daher auch von einem einheitlichen „sächsischen
Staatsvolk“ sprechen, dessen kleinerer Teil bis heute Sorbisch
spricht, während der größere Teil die Sprache irgendwann im Laufe
der letzten 45 Generationen gewechselt hat.
Bewusstseinslücken
Ein großes Problem
bleibt, dass dieser sorbische Teil der sächsischen Geschichte den
wenigsten im Freistaat überhaupt bekannt ist. Als Sorben kennen sie
jenes bunt gekleidete Völkchen zwischen Bautzen, Kamenz und
Hoyerswerda, dass zu Ostern durch die Gegend reitet und Eier bemalt.
Dass diese Leute und ihre „fremde“ Sprache irgendetwas mit ihnen,
ihrer Heimat und ihrer Familiengeschichte zu tun haben könnten,
kommt ihnen überhaupt nicht in den Sinn. Leider beschränkt sich
schon der Heimatkundeunterricht, und zwar nicht nur außerhalb der
Lausitz, auf eben genau dieses Sorbenbild, anstatt zu erwähnen, aus
welcher Sprache die Namen beinahe aller größeren sächsischen
Städte und ein Großteil der Familiennamen der „Sachsen“
stammen. Und die Tatsache, dass sich der MDR mit einer halben Stunde
sorbischen Fernsehens monatlich (!) begnügt, während es in
Österreich immerhin für ein halbstündiges Magazin in der Woche auf
Slowenisch und Burgenlandkroatisch reicht, macht das Ganze nicht
besser. Projekte wie der erst kürzlich erschienene Film „Die
Slawen –
unsere geheimnisvollen
Vorfahren“⁵
sind ein guter Ansatz, das zu ändern, auch wenn rätselhaft bleibt,
warum die interviewten sorbischen Wissenschaftler nur in der sorbischsprachigen
Version des Films, nicht jedoch in der
deutschen zu Wort kommen. Vielleicht würde ja ein größeres
Bewusstsein über die slawischen Wurzeln dieses Landes sogar der
einen oder anderen leidigen Debatte um finanzielle Mittel für den
Erhalt und die Entwicklung sorbischer Sprache und Kultur einen
anderen Ton – und eine andere Wichtigkeit – verleihen.
Sorbische Sprache
und Kultur sind untrennbar mit Sachsen verbunden und haben dessen
Geschichte und seine Bewohner über lange Zeit mitgeprägt – in der
Lausitz bis heute. Dass man diesen Teil der eigenen Identität, die
doch besonders in Sachsen gerne hochgehalten wird, des Öfteren
vergisst, in schlimmeren Fällen gar verleugnet, ist erstaunlich in
einem Land, dass oft (zu oft?) darauf bedacht ist, seine Eigenheiten
zu bewahren. Dass zu diesen Eigenheiten auch der Umstand zählt, dass
der Großteil Sachsens und seiner Bevölkerung eben nicht nur eine
„deutsche“ Geschichte hat, gehört allen Sachsen ins Stammbuch
geschrieben. Vielleicht lassen sich dann ja auch einige andere
Probleme etwas entspannter angehen.
Update: Michael Kretschmer hat nach einem Treffen mit sorbischen Vertretern am 25. Januar (Vogelhochzeit) dann doch noch einmal klargestellt, dass die Sorben zu Sachsen gehören:
https://twitter.com/MPKretschmer/status/956459126627885056